Urlaub in Masuren. Ich hatte von der Wallfahrtskirche „Heiligenlinde“ mit ihrer 280-jährigen Orgel gehört und strebte dorthin.
Der Anblick überwältigte mich: Schon von außen wirkte die gelbe Barockkirche bezaubernd; und innen schien die Orgel mit ihren Seitenteilen, die Flügeln ähnelten, den Betrachter zu umarmen. Als sie ertönte, ging ich im Klang ganz unter.
Jede Stunde spielte der Organist fünfzehn Minuten lang. Ich hatte die zweite Viertelstunde zugehört und hastete, als sie zu Ende ging, Richtung Turmtreppe. Mit klopfendem Herzen wartete ich auf den Organisten - würde er eine Fremde an seinen Schatz rühren lassen?
Als er erschien - ein zarter, schwarz gekleideter Mann -, fragte ich vorsichtig: „Sprechen Sie Deutsch?“ Kopfschütteln. „Englisch?“ Schütteln. „Französisch?“ Nichts. „Italienisch?“ - „Polski. Ruski.“ Da zeigte ich auf mich und preßte heraus: „Organista“.
Der Meister wendete auf dem Absatz und tapste die Wendeltreppe hoch. Ich folgte ihm und wiederholte mein kostbares polnisches Wort für „danke“. Auf der Empore angekommen, drückte er seitlich einen Schalter und führte mich dann zur Orgelbank. Zögernd sah ich ihn an und nahm Platz, wobei ich ins Pedal „fiel“, denn meine Beine waren zu lang für die Einstellung der Bank. Da blieb mir nur, aus der Not einen Choral zu formen; die Hände traten hinzu, und ich improvisierte eine Viertelstunde lang. Freiwillig hörte ich auf, um die Geduld des Hausherrn nicht zu erschöpfen, und wir verabschiedeten uns schweigend.
Nachdem ich den Organisten noch zweimal angehört hatte (von unten, der Kirche aus), ging ich wie im Traum zu meinem Rad, das ich an den Fuß einer Parkbank gekettet hatte. Und wer saß auf der Bank? Der schwarze Herr, eine Zigarette rauchend. Ich setzte mich neben ihn, wollte noch einmal „djänkuje“ sagen - und mein Blick fiel auf seine Hand, die die Zigarette zum Mund führte. Er kannte die Veränderung, die sich jetzt in meinem Gesicht abspielen würde, denn ich sah, dass seine Finger keine Kuppen hatten, teilweise keine Nägel, manchmal fehlte das ganze obere Glied. Er sagte, was er oft gesagt haben muß: „Majdanek“. Ich ergriff außer mir seine freie Hand: dieselbe Verstümmelung. Jetzt ahnte ich auch, warum er so eigenartig „tapste“: fehlten ihm die Zehen?
Auf ein Stück Papier schrieb ich, mit einem Sternchen versehen, meinen Geburtstag. Papier und Bleistift reichte ich ihm hinüber, und er setzte sein Geburtsdatum darunter: 21.4.39. Fünf Jahre jünger war er als ich. Im Jahre 1943 hatte das östlichste der europäischen Konzentrationslager, Majdanek, seinen Mord-Betrieb aufgenommen. Der Mann neben mir war also vier bis sechs Jahre alt gewesen, als..... Und seine Eltern?
Auf dem Begleittext der CD, die am Kirchenkiosk erhältlich war, las ich später, dass der Organist mit achtzehn Jahren seine Ausbildung an einer Musikhochschule Polens begonnen hatte. Seit vierzig Jahren versieht er den Orgeldienst in Heiligenlinde.
Und er ist freundlich auch zu Deutschen.